Weihnachtsgeschichte: Engelsflügel

Ich liebe Kurzgeschichten! Deshalb habe ich auch einige selbst geschrieben. So zum Beispiel „Advent, Advent …“ meine Sammlung von Weihnachtsgeschichten.

Eine Weihnachtsgeschichte zum Hören und Lesen

Noch ein Tag, dann ist es soweit: Es ist Heiligabend. Dieser Tag wird mir immer in schöner Erinnerung bleiben, denn er war ein schöner Tag, selbst dann, wenn es meinem Vater öfter gelungen ist, die festliche Stimmung mit schlechter Laune zu verderben. Im Verbreiten von schlechter Laune war er Weltmeister …

Allerdings habe ich diesbezüglich eine positive Eigenschaft: Schlechte Erinnerungen kann ich verdrängen. Stattdessen konzentriere ich mich lieber auf die positiven. Aus diesem Grund sind meine Erinnerungen an Weihnachten in meiner Kindheit angenehm.

In einer kleinen Geschichte habe ich sie aufgeschrieben. Veröffentlicht sind sie in meinem Büchlein „Advent, Advent …“. Ein kunterbuntes, kleines Buch mit unterschiedlichen Situationen in der Advents- und Weihnachtszeit. Teilweise die Handlung tatsächlich so stattgefunden, teilweise habe ich sie erfunden.

Buch mit Weihnachtsgeschichten

In „Engelsflügel“ beschreibe ich, wie ich Weihnachten in dem kleinen, südbadischen Dorf erlebt habe, wo ich aufgewachsen bin. In meinem geistigen Auge sehe ich den mit Plätzchen und Apfelsinen gefüllten Weihnachtsteller vor mir, habe den Geruch von „polnischer Soße“ in der Nase, sehe den mit Lametta, roten Kerzen und mundgeblasener, silberner Spitze geschmückten Weihnachtsbaum vor mir und höre meinen Bruder Mundharmonika und mich Blockflöte spielen und den Rest der Familie (Mama, Papa, Schwester) singen.

Die Geschichte kann man lesen:

Engelsflügel

Es gibt Menschen – zu ihnen zählt mein Freund Daniel – die runzeln bei dem Begriff »Weihnachten« unwillig die Stirn, und wenn sie könnten, würden sie die ganze Angelegenheit aus dem Gedächtnis streichen oder am liebsten ganz abschaffen. Der Grund dafür ist vermutlich ein traumatisches Erlebnis in der Kindheit.
Bei Daniel war das eindeutig der Fall. Er musste sich Weihnachten nämlich immer in Schale schmeißen, was heißt: ein Anzügchen anziehen und sich ein Krawättchen umbinden. Weigerte er sich, drohte Gänsebraten-Entzug und Stubenarrest. Da Daniel Gänsebraten liebte und Stubenarrest hasste, ließ er sich breitschlagen und warf sich alle Jahre wieder zähneknirschend in die von seiner Mutter geforderten Klamotten. Seitdem hegt und pflegt er eine intensive Abneigung gegen Weihnachten und alles, was damit zu tun hat.
Ich dagegen mag die Weihnachtszeit, weil ich mit diesem Begriff angenehme Erinnerungen verbinde. Angefangen bei dem Schnee, der damals noch reichlich von Himmel fiel und das kleine Dorf, in dem wir lebten, mit einer dicken Schneeschicht zudeckte, die waghalsige Schlittenfahrten, hitzige Schneeballschlachten und das Bauen von dicken Schneemännern ermöglichte. Man konnte sich auch hineinlegen (in den Schnee) und Engel produzieren. Man fächerte Arme und Beine mehrmals auseinander, das Ergebnis waren Abdrücke, die der Kontur von Rauschgoldengeln glichen.
Oder die Plätzchen meiner Mutter. Ab Mitte November war sie tagelang damit beschäftigt, Eier aufzuschlagen, Nüsse und Mandeln zu mahlen, Mehl zu sieben, Teig zu rühren und zu kneten, ihn auszuwellen, unterschiedlichste Formen auszustechen, mit Marmelade, Zucker- und Schokoladenguss zu bestreichen und ein halbes Dutzend großer Blechdosen mit den leckeren Gebäckstückchen zu füllen. Natürlich durfte ich nach Herzenslust naschen und jede Sorte ausgiebig probieren. Dabei konnte ich mich nie entscheiden, welche ich am liebsten mochte, was mehrere Testläufe erforderte und meiner Mama ein nachsichtiges Lächeln entlockte.
Oder die riesige Krippe unserer bäuerlichen Nachbarn. Sie nahm die gesamte Essecke in Beschlag, und die aufwendig modulierte Landschaft war mit echtem Moos belegt, das den Raum mit modrig-harzigem Waldgeruch erfüllte. In dem Moos steckten winzige Bäume und Sträucher und dazwischen tummelten sich handgeschnitzte, bunt bemalte Figuren. Unzählige Schafe – darunter natürlich auch ein schwarzes –
Hirten und Hunde, und in der Mitte der Stall mit Maria und Josef und dem Jesulein, in einer Krippe liegend, von schlafenden Kühen eingerahmt und den Heiligen Drei Königen bewacht.
Besonderheit des Ganzen war ein winziges Bächlein, das einem ebenso winzigen Berg entsprang, leise nach unten plätscherte und in einem kleinen See endete, von wo aus eine elektrische Pumpe das Wasser unterirdisch wieder nach oben beförderte. Der Aufbau dieses Kunstwerks dauerte ungefähr eine Woche, und diese Krippe war die schönste im ganzen Dorf, was jedes Jahr eine Menge Besucher anlockte, die staunend davor standen und »Oh!« sagten.
Ja, und dann der Heilige Abend. Die Männer (Vater und mein Bruder) stellten den Baum auf, die Frauen (Mama, meine Schwester und ich) schmückten ihn. Silbernes Lametta, weißes Engelshaar, rote Kerzen, und ganz oben prangte eine Kugelspitze, die gehütet wurde wie ein Augapfel, weil sie aus mundgeblasenem, hauchdünnen Glas und (für damalige Verhältnisse) sehr teuer gewesen war.
Stand der Baum, begab Mama sich in die Küche, um das obligatorische Weihnachtsessen zuzubereiten. Weißwürste in Polnischer Soße. Das ist eine Soße aus Lebkuchen und Malzbier. Und jedem, der jetzt die Nase rümpft, weil er die Kombination einer bayrischen Weißwurst mit Lebkuchensoße für abstrus hält, sei gesagt: Sie ist nicht abstrus, sondern schmeckt göttlich! Dazu gab es Salzkartoffeln und Sauerkraut. Während köstliche Düfte aus der Küche drangen, saßen meine Geschwister und ich am Tisch und überbrückten die unerträgliche Wartezeit mit Gesellschaftsspielen. »Mensch ärgere dich nicht« war es meistens, und ich ärgerte mich jedes Mal, weil mein Bruder grundsätzlich besser spielte als ich, ständig meine Steinchen raus schmiss und immer gewann. Dazu feixte er grinsend, was meinen Ärger noch vergrößerte.
Nachdem ich mindestens vier Weißwürste gegessen hatte, und auch die anderen volle Bäuche hatten, war es endlich soweit: Die ersehnte Bescherung begann und wurde mit Weihnachtsliedern eingeleitet. Wunderkerzen versprühten knisternde Sternchen, mein Bruder spielte Mundharmonika, ich Blockflöte, die Eltern und meine Schwester sangen. Während ich »Stille Nacht« und »Oh du Fröhliche« blies, schielte ich bereits ungeduldig auf die Päckchen, die unter dem Baum lagen. Weil wir in der Nachkriegszeit bettelarm waren, handelte es sich bei dem Inhalt der in buntes Papier verpackten Kartons meistens um pragmatische Geschenke. Ein handgestrickter Pullover zum Beispiel oder eine selbst genähte Jacke. Eine kleine vom Mund abgesparte Überraschung war trotzdem immer dabei, und auf eines konnte ich mich grundsätzlich verlassen: drei, vier Bücher. Nach der Bescherung fläzte ich mich mit einem davon aufs Sofa, schnabulierte Plätzchen und Apfelsinen (damals eine Kostbarkeit, die es nur zur Weihnachtszeit gab) und las es in einem Zug durch, während die Kerzen am Baum flackerten, ab und zu zischten und zusammen mit dem Duft von Tannennadeln und Apfelsinenschalen diese einzigartige Weihnachtsstimmung verbreiteten.
Besinnlich-gemütliche Geborgenheit, das ist meine Erinnerung an Weihnachten. Die Erinnerung an meinen cholerischen Vater, der es mehr als einmal geschafft hat, diese wunderbare Atmosphäre aufgrund irgendeiner Kleinigkeit mit einem Wutanfall zu zerstören und für miese Stimmung zu sorgen, habe ich verdrängt. Denn nur die guten Erinnerungen tragen uns auf Engelsflügeln durchs Leben. Besonders in der Weihnachtszeit.

Hier kann man die Geschichte hören. Denn ich habe sie von Dominic Kolb, einem Profisprecher, lesen lassen. Dominic hat das sehr liebevoll und mit Freude gemacht, das kann man bei jedem einzelnen Satz hören.

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