Ein kleines Weihnachtswunder
Wie bestellt rieselt zwei Tage vor dem Heiligen Abend leise der Schnee. Dick vermummt schlendert Anna über den Weihnachtsmarkt – rund zwei Dutzend mit Girlanden aus Tannenreisig geschmückte Bretterbuden rund ums Münster. Der Geruch von gerösteten Maroni, Glühwein und Bratwürsten liegt in der Luft. Genau wie früher. Überhaupt ist alles wie früher. Durch die Lautsprecher tönt Weihnachtsmusik, Lichterketten leuchten, Menschen schleppen Christbäume und vollbepackte Tüten, verfolgt von kleinen Atemwölkchen.
Anna schleppt nichts. Ihre Hände stecken in den Manteltaschen. Dort werden sie auch stecken bleiben, denn sie wird keine Geschenke kaufen. Sie wird einen Glühwein trinken, eine Bratwurst essen und dann wieder nach Hause fahren. In ihr neues Zuhause!
Ihr neues Zuhause ist ihr altes Zuhause. Beinahe. Denn ihr tatsächliches altes Zuhause existiert nicht mehr. Es fiel vor einigen Jahren der Abrissbirne zum Opfer und ist einem Neubau gewichen. Aber sie hat eine Wohnung gefunden, nicht weit entfernt von dem Bauernhaus, in dem sie aufgewachsen ist. In dem kleinen Dorf, wo sie 18 Jahre gelebt hatte. Kaum volljährig, ergriff sie die Flucht und zog in die Stadt. Dort bewohnte sie ein kleines Apartment, wo sie ihre ersten Liebesnächte zelebrierte – bei Kerzenlicht und Räucherstäbchen. Liebhaber zu finden, war für Anna nicht schwer. Ein Besuch in der Diskothek genügte. Dort standen die Verehrer Schlange nach der hübschen jungen Frau mit dem geschliffenen Mundwerk. Und Anna kostete das Angebot in vollen Zügen aus. Es war die Zeit der freien Liebe. Damals gab es schon die Pille und Aids war noch kein Thema.
Eines späten Abends lernte sie Hajo kennen. In besagter Diskothek. Mit einem Freund stand er an der Bar und warf ihr immer wieder begehrliche Blicke zu. Irgendwann forderte er sie zum Tanzen auf. Sie tanzten eine Stunde lang. Stehblues. Sie verliebte sich sofort in den hochgewachsenen, gut aussehenden Jurastudenten. Offiziell gingen sie seitdem miteinander, was Hajo aber nicht davon abhielt, jede attraktive Frau abzuschleppen, die seinen Weg kreuzte. Er war stadtbekannt für seine Amouren. »Schieß den Typen in den Wind«, sagte ihre Freundinnen und Verehrer, die nicht zum Zuge kamen, »das hast du doch nicht nötig.«
»Er ist ein arroganter Fatzke«, sagte ihre Mutter, nach dem sie Hajo kennengelernt und weitere Zusammentreffen mit ihm kategorisch verweigert hatte. Aber Anna schoss den arroganten Fatzke nicht in den Wind. »Ich liebe ihn«, beteuerte sie immer wieder und drückte beide Augen zu, wenn mal wieder das Gerücht um eine neue Liebschaft kursierte. Sie litt, ohne Vorwürfe, dafür mit der Hoffnung, irgendwann auf Gegenliebe zu stoßen. Aufregende Liebesnächte waren immer wieder Grund genug, diese Hoffnung zu nähren.
Dann absolvierte Hajo sein erstes Staatsexamen und reiste anschließend in die USA, um in einer renommierten Kanzlei in San Diego sein Auslandspraktikum zu absolvieren. Sie hörte und las wochenlang nichts von ihm. Im Briefkasten fand sie alles Mögliche, aber keine Post aus Kalifornien.
Anna steht vor dem einzigen Würstchenstand, wo auf Holzkohle gebraten wird. Die besten Würste auf dem ganzen Weihnachtsmarkt, entsprechend lang ist die Schlange hungriger Menschen. Endlich ist sie dran und bestellt eine Rinderbratwurst – in einem länglichen Brötchen auf Zwiebelringe gebettet. Das Brötchen mit dem kross gebratenen Inhalt in der Hand lässt sie Senf aus einer Plastikflasche auf ihre Wurst tropfen. Auf die freute sie sich schon den ganzen Tag und das Wasser läuft ihr im Mund zusammen. Genüsslich führt sie die Wurst zum Mund, als jemand neben ihr sagt:
»Anna?«
Mit der Wurst in der Hand dreht Anna sich zur Seite. Eine Frau steht neben ihr. Das Gesicht kommt ihr zwar bekannt vor, aber sie weiß es nicht einzuordnen. Die Frau ist in ihrem Alter, schlank, mit kurzen blonden Haaren. Braune Augen lächeln sie fragend an. Anna überlegt, die Jahre laufen im Zeitraffer ab und machen Halt in der zehnten Klasse auf dem Gymnasium. In der Reihe neben ihr saß Maria, ein blondes Mädchen, schlank, braune Augen. Maria war neu in der Klasse. Es war Sympathie auf den ersten Blick. Nach wenigen Wochen nur waren sie beste Freundinnen. »Anna-Maria« nannte man sie spöttisch, weil sie unzertrennlich waren.
»Maria?«
»Ja!« Die Frau strahlt. »Mensch, Anna, wo kommst du denn her …«
»Ich wohne seit ein paar Tagen wieder hier. In meinem alten Dorf, genau gesagt …«
Zwei Stunden später sitzt Anna mit Maria auf dem Sofa in ihrer frisch bezogenen Wohnung, in dem kleinen Kamin flackert ein Feuer. Anna hat eine Flasche Rotwein aufgemacht und die auf dem Weihnachtsmarkt gekauften Plätzchen in einer Silberschale auf den Tisch gestellt. Maria wühlt in einem Fotokarton herum, der zwischen den Weingläsern und der Plätzchenschale steht. Lachend betrachten die Frauen Fotos aus ihrer Teenagerzeit und von der Abiturfeier, als Maria wieder ein Foto aus dem Karton zieht und eine Weile anschaut.
»Erinnerst du dich an David?« Sie hält Anna das Foto vors Gesicht.
»Natürlich«, sagt Anna, »er war der Beste von allen.«
»Und genau dem hast du den Laufpass gegeben.«
»Ja, genau dem habe ich den Laufpass gegeben.«
Dreißig Jahre früher. Sommer. Schwimmbad.
»Kannst du Haare schneiden?«
Vor Anna stand ein junger Mann um die zwanzig, lange, wohlgeformte Beine, lange, braune Haare.
»Hab’s noch nie probiert.«
»Dann hast du jetzt eine prima Gelegenheit dazu.« Der junge Mann grinste.
»Setz dich.«
Anna deutete neben sich auf die Betonstufe, auf der sie im Sommer täglich lag. Die Betonstufen neben dem Schwimmbecken waren begehrte Liegeplätze im Schwimmbad – mitten in der Stadt. »Studentenbad« wurde es auch genannt, weil es nur wenige Minuten von der Uni entfernt lag und die Besucher zu 90 Prozent aus Studenten bestanden.
»Ich schau nicht gern zu Männern hoch.«
»Das dachte ich mir.« Der junge Mann grinste und setzte sich neben sie. Seine blauen Augen blitzten. Die Lachfältchen darum herum strahlten.
Am Freitag nähte Anna sich mithilfe ihrer Mutter aus weißem Baumwollstoff mit buntem Blumenmuster ein langes, einfach geschnittenes, ärmelloses Kleid. Am Samstag schnitt Anna dem jungen Mann, der David hieß, die Haare, und danach besuchten sie gemeinsam den Uniball, wo sie die ganze Nacht miteinander tanzten. Seit dieser Sommernacht waren Anna und David ein Paar.
Sie verstanden sich prima. Sie lachten über die gleichen Dinge, hatten ähnliche Interessen und Lebensanschauungen. Und waren sie mal nicht derselben Meinung, wurde zwar heftig, aber immer respektvoll diskutiert. David war liebenswürdig, zuvorkommend, gebildet und ein zärtlicher Liebhaber. Sie verstand sich gut mit seinen Freunden und er mit ihren. Mit David war alles ganz anders als mit Hajo. Anna fühlte sich aufgehoben und geborgen.
»Der ist der Richtige für dich!«, sagte Annas Mutter und lächelte zufrieden.
An einem warmen Septembertag schlenderten Anna und David Hand in Hand durch die Innenstadt. Vor einem Juweliergeschäft blieben sie stehen und betrachteten die Auslage im Schaufenster.
»Hübsche Ringe«, sagte David, »schön schlicht.« Er deutete auf ein Paar schmaler Eheringe aus Weißgold.
»Ja, schön schlicht«, sagte Anna.
»Sollen wir reingehen und sie anprobieren?«
»Anprobieren? Wozu das denn?«
»Ach, einfach nur so. Mal gucken, ob sie uns passen.«
»Mal gucken, ob sie uns passen?!«
Anna runzelte die Stirn, und David grinste. Wenige Minuten später standen die beiden im Laden und steckten sich die Ringe an. Die passten wie angegossen.
»Die nehm ich«, sagte David und zog den Geldbeutel aus der Hosentasche. Mit großen Augen schaute Anna ihn schräg von der Seite an, sagte aber nichts. Der Verkäufer verstaute die Ringe in einem Kästchen aus blauem Samt mit goldgeprägtem Firmenemblem, David bezahlte, steckte das Kästchen in die Seitentasche seiner Lederjacke, legte den Arm um Anna, und sie verließen das Juweliergeschäft wieder.
Wenige Minuten später saßen sie auf dem Rand eines Brunnens auf dem Münsterplatz und aßen Eis. Ein laues Lüftchen wehte, die Sonne schien, der Himmel war wolkenlos blau.
»Willst du mich heiraten?«, fragte David.
»Ja«, sagte Anna.
David zog das Samtkästchen aus seiner Tasche, und sie steckten sich gegenseitig die Ringe an. »So, jetzt sind wir verlobt«, sagte er und küsste sie. Mit gespreizten Fingern streckten beide ihre linken Hände in die Luft und lachten.
»David ist ein netter Junge«, sagte Annas Mutter. »Also sei auch nett zu ihm.«
»Versprochen!«, sagte Anna und war zuversichtlich, das Versprechen halten zu können.
Anfang Oktober zog Anna einen Luftpostbrief aus dem Briefkasten.
»Liebe Anna, die Zeit in den USA ist spannend. Ich genieße das Leben hier, aber ich denke oft an dich. Du fehlst mir.
Liebe Grüße – Hajo«
Als Anna diese Zeilen las, klopfte ihr Herz. Sie las die wenigen Worte ein zweites Mal, dann zerriss sie den Brief in kleine Schnipsel.
Bis Ende Oktober kam jede Woche ein Luftpostbrief aus den USA. Der Inhalt war jedes Mal ähnlich. »Du fehlst mir …«, stand immer am Ende. Und im letzten Brief stand noch: »Ich komme Anfang November zurück. Ich freue mich auf dich!«
»Wir sollten bald heiraten«, sagte Anna.
»Wann immer du willst«, sagte David.
Als Termin beim Standesamt wurde Freitag, der 1. Dezember vereinbart, und gefeiert werden sollte am Tag darauf. Eine fröhliche Adventsfeier sollte es werden. So war zumindest der Plan.
Zwei Wochen vor der Hochzeit, Samstag Nachmittag. Anna und David tranken Tee in Annas Apartment. Die Türklingel ertönte.
»Erwartest du Besuch?«, fragte David.
»Nein«, sagte Anna, drückte den Türöffner, ging ins Flur und schaute nach unten. In der Treppenkurve tauchte ein Männerkopf auf. Hajo!
Sie ging ihm entgegen. Er wollte sie umarmen. Sie wehrte ihn ab und hielt ihm ihren linken Ringfinger vor die Nase.
»Ich bin verlobt!«, sagte sie triumphierend.
»Ich liebe dich!«, sagte er. »Ich kann ohne dich nicht leben!«
Wenige Minuten später stürmte David die Treppe runter. Anna hatte ihm gesagt, dass sie ihn nicht heiraten könne.
Wenige Wochen später packte er seine Sachen und verließ die Stadt.
Hajos Liebe kühlte schnell ab. Genau gesagt verliebte er sich bei einer Familienfeier »unsterblich« in eine entfernte Cousine und bekundete Anna gegenüber ausdrücklich sein Bedauern.
Anna versuchte Davids Adresse herauszufinden, doch seine Freunde blieben eisern. Sie brach ihr Studium ab und trat einen Job als Vertriebsassistentin bei einem südafrikanischen Weingut an. Innerhalb weniger Jahre machte sie Karriere, war zuständig für den weltweiten Vertrieb exklusiver Weine und ständig unterwegs. Nachdem sie die ganze Welt bereist hatte und ihr das Nomadenleben keinen Spaß mehr machte, übernahm sie die Geschäftsleitung eines Weingutes in Kalifornien. Dort lebte sie bis zum Tod ihrer Eltern, die beide innerhalb eines Jahres starben. Die Mutter im Februar, der Vater im August. Zur Beerdigung des Vaters nahm sie zwei Wochen Urlaub. Machte ausgiebige Ausflüge durch die alte Heimat und beschloss spontan, ihre Zelte in den USA abzubrechen und sich eine Wohnung in ihrem Heimatdorf zu suchen. Es dauerte nur ein paar Tage und sie hatte eine gefunden. Einen Steinwurf vom Haus ihrer Kindheit entfernt. Bei ihren früheren Nachbarn war die Dachgeschosswohnung frei geworden. Vom Schlafzimmerfenster aus hatte sie freien Blick auf den dörflichen Weinberg – eine kleine Reminiszenz an ihren Job, der sie fast drei Jahrzehnte mit Freude erfüllt hatte.
»Hast du jemals was von David gehört?« Maria schaut Anna fragend an.
»Nein.«
»Schade, ihr habt so gut zueinandergepasst.«
»Zu gut, das war das Problem.«
»Wie bitte?!«
»Ja, ich konnte nicht damit umgehen, dass wir uns so gut verstanden haben. Ich war Streit und Auseinandersetzungen mit meinem Vater gewöhnt. Deshalb bin ich auf Hajo auch so abgefahren. War alles so vertraut – die verbalen Kämpfe, der Liebesentzug, die Respektlosigkeiten. Die Harmonie mit David war mir irgendwie suspekt. Anders kann ich mir das nicht erklären. Auch die Psychologin, mit der ich das Thema in vielen Sitzungen durchgekaut habe, ist dieser Meinung. Hajo war schließlich nicht der einzige Mann, der mich verarscht hat. Nach ihm kamen noch weitere Idioten. Einer nach dem anderen, so lange, bis ich es kapiert habe.«
»Und jetzt – hast du eine Beziehung?«
»Nein. Ich brauch auch keine. Komm gut mit mir allein zurecht.« Anna zieht einen Zimtstern aus der Plätzchenschale und beißt eine Zacke ab. »Aber in letzter Zeit denke ich öfter an David. Wer weiß, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich mich damals nicht für Hajo entschieden hätte. Mein Gott, war ich bescheuert …« Sie knabbert am Zimtstern herum und schaut versonnen ins Feuer. »Ich wüsste gern, wo er lebt, was er macht – wie es ihm geht.«
»Wer, Hajo?«
»Quatsch, David natürlich.«
Maria nippt an ihrem Rotwein und lächelt verschmitzt.
»Gut geht’s ihm«, sagt sie dann.
»Wie bitte?!« Anna starrt Maria an. »Woher weißt du das?«
»Ich treffe ihn ab und zu«, antwortet Maria. »Er lebt in der Nähe von Colmar. Führt dort eine kleine Gärtnerei.«
»Eine Gärtnerei?«, sagt Anna, »er hat doch Politologie studiert.«
»Er brach sein Studium ab und lebte ein paar Jahre in Kanada. Hat Bäume gepflanzt …«
Maria macht eine Pause.
»Apropos Bäume. Hast du schon einen Weihnachtsbaum?«
»Ich steh nicht so auf religiöse Rituale.«
»Dann solltest du dieses Jahr vielleicht mal ne Ausnahme machen.« Maria grinst. »Ich kenne da eine Gärtnerei im Elsass, die hat so viele Weihnachtsbäume, dass sie sogar welche verkauft.«
23. Dezember. Die Schneewolken haben sich verzogen, die Sonne scheint und verleiht der funkelnden Winterlandschaft weihnachtlichen Glanz. Anna frühstückt ausgiebig und durchwühlt dann den Kleiderschrank nach passenden Klamotten. Sie will gut aussehen für die bevorstehende Begegnung. Letztendlich entscheidet sie sich für Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Auch auf Schminke verzichtet sie. Eine tönende Gesichtscreme und ein bisschen Lippen-
stift, das reicht. Den kamelfarbenen Kaschmirmantel übergeworfen, und los geht die kleine Reise ins Ungewisse.
Die Fahrt ins Elsass dauert keine dreiviertel Stunde. Anna muss ihr Ziel nicht suchen, die Gärtnerei liegt – von Weitem sichtbar – am Ortsanfang. Ein riesiger Ballon in Nikolausform schwebt über einem opulent geschmückten Christbaum an der Einfahrt. Anna stellt ihr Auto ganz hinten auf dem Parkplatz ab und steigt aus. Der Geruch von Holzkohlenfeuer liegt in der Luft. Die Sonne hat sich wieder verzogen, dunkelgraue Wolken ziehen am Himmel entlang. Gemächlich geht Anna auf den Eingang zu. Eine alte Pferdekutsche steht davor, gefüllt mit Paketen und Päckchen, in Goldpapier eingewickelt und mit rotem breiten Band verziert. Anna spürt ihr Herz klopfen.
Sie geht durch die automatische Tür, betritt den mit Menschen angefüllten Verkaufsraum. Weihnachtsplätzchen und heiße Getränke werden angeboten. »Geschenk des Hauses!« Sie lässt sich Zeit. Knabbert Springerle und trinkt Glühwein aus einem blauen und mit Rentieren bemalten Keramikbecher. Schlendert die Auslagen entlang, kauft ein paar mundgeblasene Weihnachtskugeln und einen kleinen dicken Engel mit roten Bäckchen.
Dann geht sie in das Gewächshaus neben dem Verkaufsraum. Es ist menschenleer, auch die Holztische sind nahezu leer gefegt. Nur ein paar einsame Christsterne und Tannenreisigbündel sind stumme Zeugen für den Käuferansturm der letzten Tage.
Eine Tür führt nach draußen zu den Weihnachtsbäumen. Dort ist ein Mann in den Fünfzigern mit Lammfelljacke und Strickmütze gerade dabei, eine Weißtanne durch ein Rohr in ein Netz zu schieben. Anna bleibt stehen und beobachtet ihn aus einigen Metern Entfernung. Der Mann übergibt die Tanne im Netz dem Käufer, schüttelt ihm zum Abschied die Hand, und dabei fällt sein Blick in Annas Richtung. Langsam kommt er auf sie zu.
»Kann ich was für Sie tun?« Seine Stimme ist tief, kräftig und ohne Akzent.
»Ja«, sagt Anna, »ich hätte gern einen schönen Christbaum.«
»Blautanne, Weißtanne, Coloradotanne oder Fichte?«
»Ist mir egal, Hauptsache, der Baum riecht gut und nadelt nicht so schnell.«
»Dann empfehle ich eine Coloradotanne, die riecht am besten und hält lange. Ich glaube, ich habe sogar noch zwei davon. Sie können also wählen.«
»Ach«, sagt Anna, »für’s Auswählen hatte ich noch nie ein gutes Händchen … übernimm du das doch bitte für mich.«
Der Mann stutzt und schaut Anna aufmerksam an. Dann zieht er die Mütze vom Kopf und streicht sich mit seiner sehnigen, ringlosen Hand übers Haar. Seine blauen Augen peilen durch die randlosen Brillengläser. Dann zieht ein feines Lächeln über sein Gesicht.
»Du bist Anna!«
»Ja, David«, sagt sie leise, »ich bin Anna.«
Renate Blaes