„Weihnachten ohne Irma“ – besinnliche Weihnachtsgeschichte

zug winterlandschaft

Geschafft. Erschöpft lässt sich der kleine, alte Mann auf den Sitz am Fenster plumpsen. Gott sei Dank hat er sich einen Platz reservieren lassen. Mit diesen Menschenmassen jetzt um einen Platz rangeln zu müssen, das würde er nicht verkraften. Aber er hatte sich so was gedacht, er war schon immer vorausschauend. Seiner Frau war das öfter auf die Nerven gegangen, aber im Nachhinein war sie dann doch froh gewesen, auch wenn ihr schwerfiel, es zuzugeben. Meistens hatte sie auch gar nichts gesagt, sondern nur sanft seinen Handrücken getätschelt und mit ihren warmen braunen Augen auf ihn herabgelächelt. Sie war zehn Zentimeter größer als er.

Neben einem bunten Geschenkkarton liegt leichtgewichtig ein Schweinslederkoffer auf der Gepäckablage. Er hat nie viel dabei, wenn er verreist. Ein paar Hemden, Socken, Unterwäsche und ein zweites Paar Schuhe. Das hat immer gereicht. Zumindest, wenn er seine Tochter besucht. So wie in den vergangenen Tagen. Weihnachten war das so Usus. Weihnachten hatten sie immer bei Laura verbracht. Er und seine Frau.

Dieses Mal allerdings war er allein, sie hatte es schon vor Monaten angekündigt. Alle hatten erschreckt abgewinkt und gemeint, sie solle doch nicht solche Sachen sagen, der kleine Markus hatte sogar geweint. Sie nahm ihn auf den Schoß, strich seine blonden Locken nach hinten und flüsterte ihm Zauberworte ins Ohr, denn er strahlte gleich wieder. Der alte Mann weiß bis heute nicht, was sie ihm gesagt hat.

Es klopft an die Scheibe, vier fröhliche Gesichter drücken sich die Nase platt und Carola ruft etwas, das er nicht versteht. Er ist schon seit Jahren schwerhörig. Carola zappelt aufgeregt und deutet mit dem Finger in Richtung Gepäckablage. Jaja, es ist alles in Ordnung, er nickt müde und winkt, während der Zug langsam aus dem Bahnhof rollt. Er will jetzt nach Hause. Er liebt Kinder und Enkel, aber vier Tage Trubel reichen. Sie halten ihn permanent auf Trab. »Bitte, Opa, die Geschichte von Schneewittchen, aber nicht so wie die im Buch, deine Geschichte ist viel schöner.«

Er modelt sie alle um, die Märchen. Vorlesen kann jeder, aber eigene Versionen entwickeln, das ist was anderes. Er war schon immer gut im Geschichtenerzählen. »Aus Ihnen wird mal ein Schriftsteller«, orakelte vor vielen Jahren sein Deutschlehrer, der trotz Holzbein munter das Klassenzimmer durchquerte und Schiller zitierte. Dabei hatte der Junge gar keine schriftstellerischen Ambitionen, verfasste lediglich kleine Betrachtungen über Menschen. Ein bisschen ironisch, ein bisschen komisch und trotzdem liebevoll.

Später schrieb er Liebesgedichte, das lag an Irma, der großen Blonden mit den langen Haaren. Er konnte gar nicht fassen, dass sie sich für ihn interessierte, denn er fand sich weder attraktiv noch besonders intelligent. Zudem war er kleiner als sie.

Sie gingen drei Jahre miteinander und heirateten an einem sonnigen Freitag im Mai. Die Feier war bescheiden, es war Nachkriegszeit, aber es gab genug zu essen und zu trinken, und er war glücklich. Irma auch, sie strahlte und lachte in einem fort. Er war mächtig stolz. So eine schöne Frau, und ausgerechnet ihn hatte sie sich ausgesucht.

Pünktlich neun Monate später waren sie zu dritt. Laura war so blond wie seine Frau, nur die Augen hatte sie von ihm. Blaue Augen und blonde Haare. Die Männer werden ihr nachrennen, befürchtete er und sollte recht bekommen.

Als sie dann nach Hamburg zog, um Medizin zu studieren, schlief er ein paar Wochen schlecht, was sich gab, als sie ihnen Olaf vorstellte. Olaf war Assessor, zehn Jahre älter und wollte sie unbedingt heiraten. Er unterstützte dieses Vorhaben intensiv und freute sich schon auf die Enkel. Allerdings musste er lange warten. Fünf Jahre alles in allem. Er hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, als sie eine Karte mit einer merkwürdigen Nachricht bekamen. »Die Bevölkerung Hamburgs nimmt ständig zu«, hieß es da. »Was soll denn das bedeuten«, fragte er Irma. Sie nahm ihm die Karte aus der Hand, schaute kurz drauf und meinte, das sei doch vollkommen klar. Was es da zu rätseln gäbe.

Irma war überhaupt viel schneller im Begreifen als er. Nicht nur im Begreifen. Auch sonst. Und das konsequent bis zuletzt. »Ich werde mich bald verabschieden«, meinte sie. Er wollte es nicht glauben – auch nicht, als es so weit war. Als sie blass im Krankenhausbett lag und ihn anlächelte. »Wir werden uns wiedersehen«, flüsterte sie und tätschelte seinen Handrücken.

Er vermisste sie unsäglich. Diese Weihnachten ohne sie war eine seelische Tortur, andauernd sah er sie vor sich. Wie sie die Ente mit Zuckerwasser bestrich, Kartoffelklöße auf dem bemehlten Küchentisch ausrollte oder mit kindlicher Neugierde Geschenke auspackte. Akribisch entknotete sie die Schleifen, wickelte vorsichtig das Papier von den Kartons und legte es ordentlich zusammen. »Das kann man wieder verwenden. Ihr seid heutzutage viel zu verschwenderisch«, meinte sie, und er nickte zustimmend.

Für die anderen war diese Weihnachten wohl so wie immer. Sie schienen sie gar nicht zu vermissen. Keiner erwähnte sie auch nur mit einem Wort, er auch nicht. Er behielt seine Sehnsucht für sich. Nur nachts im Bett, wenn die Dunkelheit ihren schützenden Mantel um ihn legte, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Da durften sie kullern, die Tränen. Er hatte immer schon Probleme mit seinen Gefühlen gehabt. Konnte sie nie richtig zeigen. Erst recht keine Tränen. Auch bei Irma hatte er sich zurückgehalten. Aber im diskreten Dunkel war es unendlich wohltuend. Der kleine, alte Mann schluchzte leise vor sich hin, und am nächsten Morgen ging es ihm besser.

Der Schaffner kommt und verlangt nach der Fahrkarte. Stutzt, deutet auf die Gepäckablage, faselt irgendwas und greift nach der Schachtel neben dem Koffer. Die Schachtel piepst, die Schnur darum herum ist leicht aufzuziehen. Der Deckel lüpft sich von allein, ein haariges Gesichtchen taucht auf, miaut jämmerlich. Grüne Augen irren ängstlich umher, und auf einem karierten Zettel steht: »Lieber Opa, wir wissen, wie sehr dir Oma fehlt. Deswegen schenken wir dir Klärchen. Mit ihr kannst du schmusen, wenn du dich alleine fühlst. Wir haben dich sehr lieb.«

Während der alte Mann die krakelige Kinderschrift entziffert, stehlen sich Tränen aus den Augenwinkeln, und er schämt sich überhaupt nicht.

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